Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 24/97 vom 27.11.1997:

"Hört zu, wir leben in Deutschland"

Daheim bei Ariel Abaew

Von Alexander Zinn

Der Ball ist klein und löchrig. Er fliegt durch die Luft, wie ein Geschoß oder im eleganten Bogen, bevor ihn die Hand zu fassen kriegt. Basketball ist Ariel Abaews große Leidenschaft. Abaew wohnt in einer kleinen Einzimmerwohnung in Berlin-Wilmersdorf. Auf einem buntgescheckten Sofa haben wir Platz genommen. Ein gläserner Couchtisch, Metallbett, Schrank und Schreibtisch füllen das Zimmer.

Ariel sitzt uns gegenüber. Lässig wiegt er sich in seinem Bürostuhl, während der Miniaturball von Hand zu Hand gleitet. Ohne Frage, er hat die Statur eines Basketballprofis. Groß und kräftig, scheint dem kurzgeschorenen jungen Mann kein Korb zu hoch zu hängen. "Mit zehn Jahren habe ich angefangen und bis siebzehn, achtzehn eigentlich nur trainiert", erzählt er lächelnd. Gespielt hat er in der Friedenauer Regionalliga, bei Makkabiaden, war Street Ball Champion . . . Auf dem Fernseher stehen Schabbatleuchter und Basketball-Trophäen einträchtig nebeneinander.

Ariel Abaew gibt sich locker. Warum er keine Profikarriere eingeschlagen hat? "Sagen wir, ich bin nicht gut genug", sagt er. Doch in diesen Worten schwingt ein bißchen Bedauern mit; Erfolg scheint Ariel sehr wichtig zu sein. Über mangelnden Erfolg aber kann er mit seinen 26 Jahren eigentlich nicht klagen. Neben der sportlichen hat Ariel bereits eine kleine politische Karriere hinter sich. Vor drei erweckte er den jüdischen Studentenverband Berlins zu neuem Leben, dann wurde er Vorsitzender des Bundesverbands jüdischer Studenten. Dieses Jahr organisierte er das Berliner Straßenfest zum Jerusalemtag. Und im Juni wurde er in die Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde und von dieser gleich zum Studentenbeauftragten gewählt.

Dennoch, daß es mit der Basketballkarriere nichts wurde, scheint Abaew ein bißchen zu wurmen. Stattdessen studierte er zunächst einmal Zahnmedizin. In die Fußstapfen seines Vaters sollte er treten. Der war schon früh gestorben, kurz nachdem die Familie 1974 nach Deutschland kam. Die Mutter hätte ihren jüngeren Sohn gerne im weißen Kittel gesehen. Doch Ariel konnte mit dem "Klammern, Rumbasteln und Zähnegießen" nichts anfangen. "Das war genau das Gegenteil von dem, was mir Spaß macht", erklärt er schmunzelnd. Sein Entschluß, das Fach zu wechseln, stand bald fest. Ihn durchzusetzen, war dann aber doch "ein großer Kampf gegen die ganze Familie". Und was er stattdessen machen sollte, wußte er auch nicht so genau. Der Zufall kam ihm zur Hilfe. Auf einer Party traf er einen Freund aus Schulzeiten, der ihm vom Wirtschaftsingenieurwesen vorschwärmte. Das Doppelstudium sei zwar hart. Aber daß "man hinterher der ganz große Hecht ist", überzeugte Ariel.

Hart sei das Studium wirklich, räumt Ariel ein. Doch es entspricht seiner naturwissenschaftlichen Ader. Schon in der Schule hatte er Mathe und Physik als Leistungskurse. Und wäre da nicht das Engagement für den Studentenverband gewesen, hätte er das Studium wohl schon längst abgeschlossen. Doch die Suche nach seiner jüdischen Identität hat Ariel nicht losgelassen. "Nach der Schule gab es nichts, woran man sich so festhalten kann", erzählt er. Der Jüdische Studentenverband Berlins war irgendwann eingeschlafen, der Studentenkeller in der Joachimstaler Straße verwaist. "Erst wenn man heiratet und Kinder kriegt, ist man wieder integriert", meint Ariel. Für die 19- bis 35jährigen habe es damals, abgesehen vom Schabbat, kein jüdisches Leben gegeben.

Die Suche nach jüdischer Identität treibt Ariel schon seit seiner Barmizwa um. Schon damals fehlte ihm in Berlin eine Anlaufstelle, um sich mit Gleichaltrigen auszutauschen und nach gemeinsamen Wurzeln zu suchen. Nach dem jüdischen Kindergarten besuchte Ariel reguläre staatliche Schulen - jüdische gab es damals noch nicht. "Immer wenn es im Unterricht um's Dritte Reich oder jüdisches Leben ging, wurde ich gefragt", erzählt er. Doch das war für den selbstbewußten Jungen nicht das Problem. Schwierig war die Suche nach der eigenen Identität. "Die einzige Begegnung mit jüdischem Leben waren Filme oder Bücher über das Dritte Reich; Judentum wurde über den Holocaust definiert."

In Ariels Elternhaus freilich waren jüdische Traditionen nicht bedeutungslos. Sein Vater war überzeugter Zionist. 1972 boxte er bei den russischen Behörden einen Ausreiseantrag durch. Die Familie ging nach Israel und so war Hebräisch die erste Sprache, die der noch in Moskau geborene Ariel lernte. Doch Israel während des Jom-Kippur-Krieges war nicht das Israel, das sich die Abaews vorgestellt hatten. Dem an Diabetes erkrankten Vater machte die Hitze zu schaffen. Ariels Mutter fand in ihrem Beruf als Deutschlehrerin keine Arbeit. Und so zog die Familie zwei Jahre später nach Berlin. Ariel lernte Deutsch, vom Hebräisch dagegen blieb nicht viel hängen.

Wie eine Offenbarung war es für Ariel dann, als er die Geschwister seines Vaters in New York besuchte. In deren Leben spielten jüdische Traditionen eine viel größere Rolle, als er es gewohnt war. Das quirlige New Yorker Leben faszinierte ihn: die jüdische Lebensfreude, Musik und "Feste, die überhaupt nicht traurig sind". Sie setzten einen wichtigen Kontrapunkt zur "Definition über den Holocaust". Zurück in Berlin, begann Ariel, Bücher über das Judentum zu lesen. Als Betreuer fuhr er in ein Machane Ferienlager. Und dort erlebte er ein Gemeinschaftsgefühl, das er nicht mehr missen wollte.

"Unbewußt umgebe ich mich ständig mit Freunden, ich bin ungern allein", erzählt Ariel. Das Telefon neben dem Bett kommt kaum zur Ruhe, und er läßt es sich auch nicht nehmen, jeden Anruf zu beantworten. Gemeinschaftsgefühl, das war neben der Suche nach eigener Identität sicher die wichtigste Triebfeder, sich für den Studentenverband zu engagieren. Als das Telefon eines Tages wieder einmal klingelte und sein Freund Rüdiger Mahlow fragte, ob er nicht zu einem Treffen jüdischer Studenten kommen wolle, war Ariel Feuer und Flamme. "Ich will nicht sagen, der Studentenverband sei eine Selbsthilfegruppe" - der Begriff klingt ihm zu sehr nach Krankheit. "Es ging um ein anderes Bewußtsein".

Und es ging um eine Gemeinschaft, die Ariel auf anderen Ebenen nicht finden konnte. "Deutschland ist nicht meine Heimat, dieses Zugehörigkeitsgefühl fehlt", sagt er. Vor einigen Jahren beantragte er zwar einen deutschen Paß, "doch das war eine reine Vernunftentscheidung". Nur als Deutscher war es ihm damals möglich, seine Familie in Rußland zu besuchen. Warm werden kann Ariel mit dem Land der Täter nicht. "Wenn ich auf der Straße alte Leute sehe, denke ich jedesmal, was haben die zwischen 33 und 45 gemacht". Doch still und zurückgezogen leben, auf gepackten Koffern quasi, auch das ist Ariels Sache nicht. "Ich will mich nicht verstecken, sondern etwas verändern, jüdische Identität, jüdisches Selbstbewußtsein vermitteln."

Dem jüdischen Leben "hinter Metalldetektoren, eingeschlossen und abgeschottet", wollte Ariel auch mit dem Fest in der Oranienburger Straße etwas entgegensetzen. Doch die Feier zum 30. Jahrestag der Eroberung Jerusalems geriet schon im Vorfeld ins Kreuzfeuer der Kritik. Da waren die Bedenkenträger bei Gemeinde und Polizei, die nur das Sicherheitsrisiko sahen. "Hört zu, wir wohnen in Deutschland," entgegnete er ihnen, "wenn wir hier nicht feiern können auf der Straße, dann haben wir hier auch nichts verloren". Und es gab jene Kritiker, für die der Jerusalemtag Krieg und neuerliche Okkupation bedeutet. "Dieses Bild, dieses Gefühl", für das Jerusalem in Ariels Augen steht, verstanden sie nicht.

Für das Straßenfest hatte Ariel seine Diplomarbeit wieder einmal verschieben müssen. "Auf gar keinen Fall wollte ich mein Studium vernachlässigen", sagt er und schmunzelt ein wenig. "Aber man steigert sich da so rein". Inzwischen jedoch geht er jeden morgen in die Staatsbibliothek, um zu recherchieren. "Entscheidungskriterien im Mobilfunk" sind das Thema seiner Arbeit, und wenn alles gut geht, bekommt er von einer Mobilfunkfirma auch Geld für die Marktanalyse.

"Paris, London, New York, Tel Aviv, jeweils ein Jahr", das ist so einer seiner Träume für die Zeit nach dem Studium. "Ich möchte mich später nicht darüber ärgern, was ich alles verpaßt habe", meint er und setzt zum zielsicheren Wurf in Richtung Korb an. Der hängt an der Tür der kleinen Wohnung. Doch auch das ändert sich bald: Ariels neue Zweizimmerwohnung, ein paar Straßen weiter gelegen, wird schon renoviert. Wenn ihm auch Deutschland keine Heimat ist, so doch diese Gegend. "Ich glaube ich liebe Berlin", sagt Ariel und lächelt etwas verlegen.