Autor: Alexander Zinn;
Redaktion: Kultur Aktuell - Kompass;
Sendung: 28.8.1996; Dauer: 14 Minuten
Einleitung:
001 Nina Hagen: wau wau 004 [16 sek.]
64 wir sind jedes Jahr
hier an dem Baum
65 Stammbaum, keine Ahnung warum
004 wau wau 007 [16 sek.]
639 ach hier ist das so schön schwul, schwuler Treff, hier sieht man wirklich geile schwule Typen 640
010 wau wau 013 [16 sek.]
137B also das ist schon mal ganz wichtig, also in dem Bereich hier, in dem Kreis, hier wird schon ein bißchen auf Sauberkeit geachtet 138B
016 wau wau 019 [16 sek.]
Text Zinn:
Sommer, Sonne, Urlaubszeit: die städtischen Parkanlagen sind überfüllt.
Alle sind sie da: Egal ob Rentner, Hundehalter, Penner. Sonnenhungrige,
Jogger oder Studenten. Schwule, Esoteriker oder türkische Großfamilien:
[16 sek.]
Nutzung: [90 sek.]
50 also, wir grillen mit der Familie mal ein Tag so im Jahr, haben unsern
Spaß so, Freunde und so was halt. 51
422 wir gehen spazieren
428 weil die Luft hier gut ist, man kann über den Rasen latschen hier
und das schont die Schuhsohlen und auch die Knie. Deshalb machen wir das.
431
319 da vorne ist ein Baum, sein Name ist Eros weil ab und an von ihm Honig fließt, da oben sind Wespen, ganz ganz weit oben, aber die stören einen nicht, und man klettert auf den Baum und wird ruhig und kriegt Kraft um die Stadt zu ertragen. 322
601 ja um Leute zu treffen, natürlich auch um mich hier zu sonnen . . . aber irgendwie paar nette Typen kennenlernen, Freunde treffen 603.5
472 Mit 'm Hund Gassi
gehen.
474 er spielt hier und dann gehen wir weiter und dann gehen wir über
die Straße und dann spielt er wieder, er hat seine bestimmten Plätze
wo er sich ausruht vom Laufen 477
Musik:
001 wau wau 004 [16 sek.]
Text Zinn:
Parks, so heißt es, sind Orte der Begegnung - öffentliche Orte,
an denen man sich trifft. Schon der Adel traf sich lustwandelnd in den zu
jener Zeit noch gar nicht öffentlichen Parkanlagen. Das fleißige
Bürgertum eiferte ihm nach. Allerdings beschränkte man die doch
allzusehr nach Müßiggang riechende Vergnügung auf den "Sonntagsspaziergang".
Karl Gottlob Schelle verfaßte 1802 ein ganzes Buch, um die zweifelhafte
Betätigung zu rechtfertigen: [30sek.]
O-Ton:
Schritte [10 sek.]
Sprecherin:
"Jener reine Eindruck des Lustwandelns auf einer öffentlichen
Promenade äußert sich nun durch uninteressiertes Wohlgefallen
an Menschen, ihrem Seyn und Thun: der Anblick des Frohsinns, der guten Laune,
des heiteren Scherzens, des geschmackvollen Anzugs, der angenehmen Haltung
des Körpers der schönen Welt, des wechselnden Spiels der Gestalten,
des ganzen regen Lebens und bunten Menschengewühls . . ." [30
sek.]
Text Zinn:
Traditioneller Ort der Begegnung war die Promenade, der Spazierweg. Wo aber
trifft man sich heute? Kaum einer, der noch spazieren geht, alle sind sie
unterwegs: auf ihre Wiese, zu ihrem Baum, auf ihre Bank. [16 sek.]
Orte: 90 sek.
096B immer an der gleichen Stelle!
312,5 Es gibt einige Plätze die mir sehr am Herzen liegen, einige Bäume, auf die ich klettere, weil, ja jeder hat bestimmt hier seinen Platz so, den er am liebsten hat 315,5
372 ich hab schon so meine Nischen, wo ich mich besonders gerne aufhalte.
442 man hat so seine Wege ja klar es ist leider so, so eingefahrene Wege, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. 445
173 weiß ich nicht, wir sind einfach so gewöhnt uns hier zu treffen, weil einfach hier auch einfacher ist, sagen wir mal so unsere Kumpels, wir treffen uns gegenüber von der Kongreßhalle, ja und dann finden wir alle. 176
204 dat ist einfach der Platz hier, weil dat eben so Tradition ist, hierher zu gehen.
480 immer gleich immer jeden Tag jeden morgen jeden abend immer gleiche Stelle gleiche Welle 482
Musik:
004 wau wau 007 [16 sek.]
Text Zinn:
Die multikulturelle Gesellschaft, so scheint es, hat sich ihre Einflußsphären
perfekt aufgeteilt. Territorien sind abgesteckt, unsichtbare Demarkationslinien
durchziehen die öffentlichen Grünanlagen. Mitunter genügen
zwei Schritte, um zum Grenzverletzer zu werden. Hier, die Schwulenwiese:
halbnackte Männer starren Dich an. Dort, die Esoteriker: auf der Suche
nach dem Selbst verknoten sie Arme und Beine. Dann plötzlich orientalische
Klänge: vier Generationen auf bunten Wolldecken - nur Papa steht am
zischenden Grill.
Doch das "multikulturelle" Territiorialverhalten ist kein neues
Phänomen. Schon im 18. Jahrhundert gab es Verteilungskämpfe. Damals
mußte sich das aufstrebende Bürgertum den Zugang zu den Parkanlagen
des Adels erst erstreiten. Friedrich Justin Bertuch berichtet über
den Pariser "Jardin du Luxembourg": [55 sek.]
Sprecherin [zu Musik: Michael Nyman, Memorial]:
"Dort sieht man genießende, mit allen Erzeugnissen der Kunst
und des Luxus herausgeputzte Menschen, hier nützliche, im einfachen
Schmucke der Natur prangende Bäume; dort ganze Haufen gaffender Müssiggänger,
süßer Herrn, Abenteurer, Glücksritter zu Fuß und zu
Pferde, lustwandelnder und lustsuchender Schöner in und außer
Karossen u. s. w.; hier einzelne Bürgerfamilien in Kleidung und Anstand
ebenso bescheiden, als die sie umgebende Natur, ein die Einsamkeit suchendes,
liebendes Paar, einen das Geräusch der Stadt fliehenden Gelehrten mit
einem Buche in der Hand." [40 sek.]
Text Zinn:
Der lustwandelnde Adel mußte die Parkanlagen fortan mit wohlanständigen
Bürgerfamilien teilen. Diese pflegten ihre Sonnatgsspaziergänge
und ritualisierten die öffentliche Kommunikation. Man nickte sich zu,
der Herr lüftete den Hut:
[16 sek.]
Sprecherin:
"Frau Kommerzienrat, Herr Direktor" [Geräusch: Schitte] [5
sek.]
Text Zinn:
Doch das Sonntagsritual erstarrte im Laufe zweier Jahrhunderte. Die einstige
Vergnügung wurde zur Pflicht, zur Last: [10 sek.]
Musik:
Degenhard, Deutscher Sonntag: [55 sek.]
011 - 020 [43 sek.]: Da treten sie zum Kirchgang an, Familienleittiere voran,
Hütchen, Schühchen, Täschchen passend, ihre Männer unterfassend,
die sie heimlich vorwärts schieben, weil die gern zu Hause blieben,
und dann kommen sie zurück, mit dem gleichen bösen Blick, Hütchen,
Schühchen, Täschchen passend, ihre Männer unterfassend, die
sie heimlich heimwärts ziehen, daß sie nicht in Kneipen fliehen.
Ba babam . . .
057 - 061 [12 sek.]: Und dann die Spaziergangsstunde, durch die Stadt zweimal
die Runde. Hüte ziehen, spärlich nicken, wenn ein Chef kommt tiefer
bücken . . .
Text: Zinn
Die Kulturrevolution von 1968 fegte die überkommenen Rituale hinfort.
Die Spazierwege der Parkanlagen leerten sich. "Rasen: Betreten verboten"
- eine Aufforderung zur Revolution. Die langhaarige Avantgarde eroberte
die Wiesen, und die kleinbürgerliche Familie folgte.
Nun also liegen sie auf ihren Wiesen - wo aber bleibt die Begegnung? [25
sek.]
Begegnung: 90 sek.
190 na zum Beispiel war ich mal alleine da und da haben sie mir Tee gegeben
. . . ist doch gut. 193
58 ja, die Weiber, ja
die Mädchen
59 - 60 also wenn sowas mal vorbeiläuft, mal nen Blick oder so Wir
schauen uns kein Mädchen an, die Mädchen schauen uns an.
403 ich glaube es ist
sehr viel Kommunikation in dem Grün einfach, weißt Du, in der
Farbe und in der Natur. 404
342 wenn ich herkomme ist für mich die Natur am wichtigsten. Menschen
sind hier oft sehr schön und schau da hinten spielen Leute Ball und
da jonglieren welche und da machen Leute Petting - das ist doch sehr schön.
347
451 man beobachtet die Leute ja und diskutiert oder spricht darüber 452
492 na ja wat se so machen wie se so aussehen auch und na ja, so det, wat se im Grunde genommen machen, ist mir scheißegal, aber man guckt halt, ne. 495
Musik:
010 wau wau 013 [16 sek.]
Text Zinn:
Man beobachtet, "guckt halt". Vor allem aber guckt man nach seinesgleichen.
Die Wiesen sind schließlich gut sortiert. Wiederum nichts neues. Auch
das Bürgertum blieb lieber unter sich. Als die Französische Revolution
den Jardin du Luxembourg für das gemeine Volk öffnete, klagte
Bertuch: [20 sek.]
Sprecherin:
"Kohlenträger, Fischweiber, Käsehökerinnnen, alles läuft
jetzt schreiend, lärmend durcheinander", [Geräuschkulisse:
Geschrei, Markttreiben] [10 sek.]
Text Zinn:
Im Kampf um die Parkanlagen stand das Bürgertum von Beginn an auf verlorenem
Posten. Mit den Familienspaziergängen dominierte es zwar das öffentliche
Leben in den Parks. Mehr oder minder verborgen schossen aber andere gesellschaftliche
Gruppen quer. Magnus Hirschfeld berichtete 1904 über die Nutzung des
Berliner Tiergartens: [20 sek.]
Sprecherin:
"Vom frühen morgen, wenn die Begüterten auf den Reitwegen
ihr Herz entfetten, bis zum Mittag, wenn der Kaiser seine Spazierfahrt unternimmt,
vom Frühnachmittag, wenn im Parke tausend Kinder spielen, bis zum Spätnachmittag,
wenn sich das Bürgertum ergeht, hat jeder Weg sein eigenes Gepräge."
So auch jener Weg, "der im Volksmunde der 'schwule Weg' genannt wird"
und sich "durch Jahrhunderte bis in unsere Tage erhalten" hat.
[30 sek.]
Text Zinn:
Die Berliner Schwulen, gesellschaftlich geächtet und kriminalisiert,
schufen sich mit dem "schwulen Weg" einen territorialen Freiraum.
Und dieser Freiraum wurde geschützt: [10 sek.]
Sprecherin:
"Am Eingang des 'schwulen Weges' wacht der 'Beschließer des Tiergartens',
ein verarmter Homosexueller, bei dem man sich ein 'Eintritts-Billett' für
10 Pfennige löst, wofür man dann auch mancherlei Auskünfte
erhält, vor allem ob 'die Luft rein' und keine 'Greifer' in der Nähe
seien." [30 sek.]
Text Zinn:
Auch heute werden die einmal eroberten Territorien argwöhnisch bewacht.
Verirrt sich ein Außenstehender auf die falsche Wiese, wird der interessierte
Blick schnell zum skeptischen: [16 sek.]
Verteidigung?: 90 sek.
296 - 299 ja klar wenn so welche um mich herum sind, die nicht umbedingt
voll hier alles vollqualmen, und vollgrillen oder so ne, da ist das schon
in Ordnung. . . aber ich find es eben besser die grillen an ihren Flecken,
machen ihre Feten da, na und ich, ich geh an meine Fete. 15 sek.
661 ich glaube die würden nicht lange hier liegen, also ich glaube mit dem Umfeld da könnten die nicht lange mit umgehen, die würden also irgendwann schnell nach Hause gehen oder sich einen anderen Platz suchen, das haben wir schon erlebt, letzten Sommer. 667
153B also hier dat wäre
jetzt, also da hätten wa was dagegen, also da würden wir auch
ein bißchen möcht ich sagen beinah agressiv hier reagieren 155B
157B. . . man will ja auch mal unter sich sein, ja und nicht da hier mit
dem Mischvolk hier zusammen sein, und sich da die ihre Klänge da noch
mitanhören, da solln se unter sich bleiben 160B
Musik:
016 wau wau 019 [16 sek.]
Text Zinn:
Die Verhaltensforscher glauben es schon lange zu wissen: wir haben es mit
nichts anderem als menschlichem Revierverhalten zu tun. Robert Ardrey über
"Adam und sein Revier": [10 sek.]
Sprecherin:
"Wenn wir unseren Besitz oder unser Land verteidigen, so sind die Gründe
hierfür die gleichen, ebenso angeboren und unausrottbar wie bei den
niederen Tieren. Der Hund, der hinter dem Zaun hervor den Fremdling anbellt,
tut dies aus den gleichen Motiven, aus denen sein Herr diesen Zaun errichten
ließ." [16 sek.]
Text Zinn:
Der Mensch, ein niederes Tier, das Wiesen markiert und Fremdlinge anbellt?
Das wollen Sozialwissenschaftler nicht auf sich sitzen lassen. Professor
Rolf Lindner vom Berliner Institut für europäische Ethnologie:
[10 sek.]
Lindner:
62,5
Ich denke, daß dort der informelle Besitztitel auch anerkannt wird
von der anderen Seite, weil, wenn man davon ausgeht, daß Raum erstmal
in unserer Gesellschaft Privatbesitz ist und viele Räume überhaupt
nicht zugänglich sind, so sind andere wiederum über symbolische
Prozesse okkupierbar in Anführungszeichen - vielleicht ist das jetzt
ein schlechtes Wort, weil wir damit wieder ins Territorialverhalten zurückkommen
- aber symbolisch gewissermaßen besetzt werden, und ich denke daß
die verschiedenen Gruppen auch anerkennen, daß der und der Raum also
jetzt von einer Gruppe zunächst mal als ihr Raum angesehen und betrachtet
wird. 70
[40sek.]
Text Zinn:
Egal ob "symbolische Okkupation" oder "instinktives Verhalten"
- an den Fakten kommt keiner vorbei. Wie Bärenfelle werden öffentliche
Parkanlagen aufgeteilt. Die unterschiedlichsten Gruppen okkupieren Wege
und Wiesen, Bänke und Bäume. Und daran wird sich wohl auch im
nächsten Sommer nichts ändern. [20 sek.]
Musik:
016 wau wau 019 [16 sek.]