Autor: Alexander Zinn; Redaktion: Bildung und Wissen - MerkMal;
Sendung: 14.5.1997; Dauer: 15 Minuten


Das "Dritte Geschlecht"
100 Jahre Schwulenbewegung

Öko:
[248] "Äh, so 'n Sexualforscher war das, in zwanziger Jahren."

Frau:
[003] "Ja, ich glaub 'n Arzt . . .[Frage schneiden] . . . ähh irgendwelche Untersuchungen und Forschungen zur Homosexualität, kann das sein?"

Türke:
[027] "Der sieht aber männlich aus. War er Homosexueller? Sieht er nicht so aus!"

Berliner:
[202] "Der hat sich für die Homosexuellen eingesetzt, glaub ick, ja aber mehr kann ich dazu nicht sagen."

Atmosphäre: Regen, Windböen

Zinn (Hintergrund Regen, Windböen):
Der 15. Mai 1897 ist ein kühler, verregneter Frühlingstag. Doch die Berliner Gemüter sind erhitzt. Wieder einmal sollen die demokratischen Rechte eingeschränkt werden. Die Preußische Regierung will Vereine verbieten, "deren Zweck oder Thätigkeit den Strafgesetzen zuwiderläuft".

Atmosphäre: erregte Debatten

Zinn:
Wenig beeindruckt von der Debatte zeigt sich der 29jährige Sanitätsrat Magnus Hirschfeld. In seine Charlottenburger Wohnung gründet er an diesem Tag das "Wissenschaftlich-humanitäre Komitee". Ziel des Vereins ist die Beseitigung eines Strafgesetzes. Zu Fall bringen will man den § 175, der Homosexualität unter Strafe stellt.

Rußlanddeutsche:
[049] "Was so lange gibt es homosexuelle Leute [lacht]?

Zinn:
Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee ist die erste Organisation, in der sich Homosexuelle zusammenschließen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Und weit mehr: Mit seiner Gründung beginnt die Geschichte der Schwulenbewegung.

Junge Frau:
[206] "Vor hundert Jahren? So lange ist das schon so offiziell mehr oder weniger?"

Zinn:
Vorkämpfer der Schwulenbewegung hatte es schon Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben. Zum Beispiel den Juristen Karl Heinrich Ulrichs. Am 29. August 1867 trat er vor den Deutschen Juristentag zu München, um die Bestrafung der Homosexuellen anzuprangern:

Sprecher:
"Es handelt sich, meine Herren, um eine auch in Deutschland nach tausenden zählende Menschenclasse, um eine Menschenclasse, welcher viele der größten und edelsten Geister unsrer so wie fremder Nationen angehört haben . . ."

Atmosphäre: Rufe "Aufhören! Schluß!" (Tobender Lärm, Tumult)

Zinn:
Die wohlanständigen deutschen Juristen schrien Ulrichs nieder. Doch die Niederlage war ein erster Erfolg.

Sprecher:
"Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme anrechnen, daß ich am 29. August 1867 zu München in mir den Muth fand, Aug' in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wuthblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete. Ja, ich bin stolz, daß ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu versetzen."

Zinn:
Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee setzt Ulrichs Kampf fort. Es geht um die Streichung des § 175, der Homosexuelle zu einem Doppelleben zwingt. Man trifft sich in Parkanlagen und Pissoirs, nicht wenige kaufen sich Strichjungen. Diese Situation öffnet der Erpressung Tür und Tor.

Sprecher (Berliner Rotzlümmel):
"Jeehrte Frau! Sie werden mir nich kennen, aber Ihr Mann kann sahgen, wer daß ich bin. Ihr Mann kennt mir sehr gut, ich bin sein lieber Freund, und ich wollte Ihnen bitten, daß er mir die 300 Mark, die er mich das letzte Mal versprochen, schickt. In die letzte Zeit drückt er sich immer von das Bezahlen, und für die Schweinerei muß er, sonst jeht's zum Staatsanwalt. Also, liebe Frau, ich warne Ihnen, denn Ihr Mann ist so einer, was ich hiermit jesagt haben will. Mir hat er auch verführt, wie so viele andere. Mit Hochachtung achtungsvoll Eduard Kieseke."

Zinn:
Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee wendet sich mit einer Petition zur Abschaffung des § 175 an den Reichstag. Eintausend Prominente haben sie unterschrieben, unter ihnen der SPD-Vorsitzende August Bebel. Mit Broschüren und Büchern versucht man, die Bevölkerung zu überzeugen. Doch es kommt anders als erhofft. 1907 werden einige Vertraute des Kaisers bezichtigt, homosexuell zu sein. Die SPD-Zeitung "Vorwärts" geißelt Homosexualität daraufhin als "Produkt des Verfalls". Die öffentliche Meinung kippt und das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee verliert mehr als die Hälfte seiner Mitglieder.

Ernst Busch, Solidaritätslied (Refrain)
Vorwärts, und nicht vergessen, . . .

Zinn (Hintergrund Refrain Solidaritätslied):
Erst die Novemberrevolution von 1918 gibt der Homosexuellenbewegung neuen Auftrieb. In allen größeren Städten entstehen "Freundschaftsverbände". Kneipen schießen wie Pilze aus dem Boden. Zeitschriften erreichen Rekordauflagen. Und in Berlin gründet Magnus Hirschfeld sein legendäres Institut für Sexualwissenschaft.

Claire Waldoff, Hannelore:
Hannelore, Hannelore, schönstes Kind vom Halleschen Tor.
Hannelore trägt ein Smokingkleid und einen Bindeschlips . . .

Zinn (Waldoff im Hintergrund):
In den "Goldenen Zwanzigern" kommt Homosexualität in Mode. Die Berliner Gesellschaft findet es "tres chic", mit allem und jedem zu experimentieren. Und die Massen jubeln der lesbischen Claire Waldoff zu:

Claire Waldoff, Hannelore:
. . . es hat mir einer anvertraut, sie hat 'nen Bräutigam und 'ne Braut, doch dies bloß nebenbei. Hannelore, Hannelore, schönstes Kind vom Halleschen Tore.

Zinn:
1929 kann das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee seinen wohl größten Erfolg verbuchen. Der Strafrechtsausschuß des Reichstages beschließt, den § 175 zu streichen. Doch dazu kommt es nicht mehr . . .

. . . Marschschritt, Trommeln ( evtl. O-Ton vom 30.1.1933)

Zinn:
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten beginnt auch die Verfolgung der Schwulen. Homosexuellenlokale werden geschlossen, Zeitschriften verboten. Hart trifft es Magnus Hirschfeld, der den Nazis wegen seiner jüdischen Abstammung besonders verhaßt ist. Am 6. Mai 1933 plündert die SA sein Institut für Sexualwissenschaft. Die Institutsbibliothek wird mitsamt einer Hirschfeld-Büste auf dem Berliner Opernplatz verbrannt.

O-Ton Bücherverbrennung (2. Rufer):
"Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner." [nach Mann langsam abblenden]

Zinn:
Viele Homosexuelle verlassen Deutschland. Magnus Hirschfeld geht ins französische Exil, wo er 1935 stirbt. Andere dagegen geraten in die Fänge der Nationalsozialisten. So der Schauspieler Kurt von Ruffin. Im Herbst 1934 wird er von Gestapobeamten abgeholt und ins Konzentrationslager Lichtenburg gebracht:

Kurt von Ruffin:
"Ja, sie kamen mittags ins Haus und haben mich mitgenommen. Haben rumgesucht, haben nichts gefunden. Denn ich hatte nichts aufgehoben. Gar nicht dumm! Denn die vielen Tunten haben ja haargenau aufgeschrieben wie oft und wo sie gebumst haben, mit wem, wie groß der hatte. Diese ganzen Notizen haben die alle bei der Gestapo gehabt."

Zinn:
1935 verschärfen die Nazis den § 175 - selbst Küsse stehen nun unter Strafe. Abertausende werden in Konzentrationslager verschleppt, etwa Zehntausend kommen ums Leben.

Sirene: Entwarnungston

Zinn:
Auch die Befreiung vom Faschismus bringt den Schwulen keine Freiheit. Der § 175 wird nicht abgeschafft. 1950 richtet man in Frankfurt am Main sogar ein Sondergericht für homosexuelle Verfehlungen ein. Und Bundesjustizminister Thomas Dehler fordert für vorbestrafte Homosexuelle das Verbot:
Sprecher (kalte, durchdringende Stimme):
"- des Aufenthalts an bestimmten Orten (z. B. Bäder, Sportplätze, Parkanlagen)
- der Ausübung bestimmter Berufe (Masseur, Sportlehrer, Jugendleiter)
- des Verkehrs mit bestimmten Personen oder Personengruppen
- des Genusses von Alkohol oder des Besuches von Gaststätten
- der Verbreitung von Druckschriften"

Zinn:
Diese Atmosphäre bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Homosexuellen. Der Historiker Günter Grau:

Günther Grau:
[076] "Selbst der Begriff 'homosexuell', von schwul mal ganz zu schweigen, wurde ja nicht gebraucht. Natürlich hat es eine homosexuelle Subkultur oder homosexuelle Subkulturen gegeben . . . [083] aber die darin agierten, bezeichneten sich nicht als homosexuell, sondern die hatten einen ganz verklemmten Ausdruck, die waren 'so', wir sind 'so', oder er ist 'so', und es gab zwar auch Treffpunkte, die bekannt waren, . . . [087] die natürlich nicht als homosexuell sich annoncierten, aber es waren Treffpunkte, wo die die 'so' waren wußten, daß sie andere die 'so' waren trafen."

Zinn (Hintergrund: Ton Steine Scherben, "Verboten"):
Erst die 60er Jahre bringen Veränderungen. Juristen und Mediziner diskutieren über eine Liberalisierung des § 175. Und die Studentenbewegung prangert die verlogenen Moralvorstellungen der 50er Jahre an.

Ton Steine Scherben, "Verboten":
"Es ist verboten, was wir da machen ist verboten . . ."

Zinn (Hintergrund: Ton Steine Scherben, "Verboten"):
Die Zeit ist reif für Reformen. Sang- und klanglos streicht die DDR am 12. Januar 1968 den § 175. Im Sozialismus, so glaubt Justizminister Kurt Wünsche, gibt es die Homosexualität nicht mehr:

DDR-Justizminister Kurt Wünsche (Volkskammer, 11.6.68):
"Bei allen strafrechtlichen Einzelbestimmungen wurde sorgfältig geprüft, ob die Straftatbestände angesichts des gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungsstandes in der Deutschen Demokratischen Republik noch erforderlich sind. Wo dies verneint werden konnte, sind die entsprechenden Straftatbestände nicht mehr aufgenommen worden."

Zinn (Hintergrund: Ton Steine Scherben, "Verboten"):
Der Deutsche Bundestag folgt am 25. Juni 1969. Aber auch im Westen will man die Homosexualität nicht tolerieren. Man betrachtet sie jetzt lediglich als Problem der Medizin.
Ton Steine Scherben, "Verboten"
"Es ist tabuhu, was wir da machen ist tabuhu . . ."

Zinn (Hintergrund weiterhin: Ton Steine Scherben, "Verboten"):
Diskriminierung und Benachteiligung sind mit den Strafgesetzen nicht abgeschafft. Weiterhin werden bei der Polizei sogenannte Rosa Listen geführt. Immer wieder gibt es Razzien in Homosexuellenlokalen.

Zinn (Hintergrund: Amerikanische Polizeisirenen, Sprechchöre, Tumult):
Am 27. Juni 1969 bringt eine Razzia in der New Yorker Schwulenbar "Stonewall Inn" das Faß zum Überlaufen. Vor dem Lokal in der Chistopher Street versammeln sich innerhalb weniger Minuten mehrere hundert Schwule und Lesben. Die Polizei ist eingekesselt und verschanzt sich in der Bar. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht: erstmals haben sich Lesben und Schwule zur Wehr gesetzt.
Polizeisirenen
Der 27. Juni 1969, fortan "Christopher Street Day" genannt, ist das Auftaktsignal einer neuen, internationalen Bewegung. Einen Monat später kommt es in New York zur ersten Schwulendemonstration.
Sprechchöre: "Gay Power"

Zinn:
In Deutschland ist es ein Film, der zur Initialzündung wird. Rosa von Praunheim dreht ihn 1970 im Auftrag der Bavaria-Filmstudios:

Praunheim:
[020] "Die Bavaria wußte natürlich nicht, was sie sich damit einkauft, denn ich hab den Film stumm gedreht . . . [023] und hab erst hinterher den Kommentar gemacht, der eben so besonders bissig ist und provokativ."

Zinn:
"Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt" ist Titel und Botschaft zugleich. Doch es sind weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Film angreift. Erbarmungslos angeklagt wird der schwule Spießer:

O-Ton Film:
[009] "Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen, mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv und verhalten sich konservativ, als Dank dafür, daß sie nicht totgeschlagen werden."

Zinn:
Als der Film 1971 aufgeführt wird, kommt es zu heftigen Protesten.

Praunheim:
[048] "In Schwulenlokalen gab es Wirte, die mich nicht reingelassen haben, und dann mit Messern und Hunden bedroht hatten." [072] "Darauf hatte ich ja auch gezielt, ich wollte ja sozusagen das Publikum emotionalisieren und provozieren . . ."

Zinn:
Doch der Film verfolgt auch noch andere Ziele:

O-Ton Film:
[403] "Boykottiert Parks und Toiletten, kommt raus aus Euren Verstecken, geht auf die Straße, demonstriert für Eure Rechte"

Zinn:
In über fünfzig westdeutschen Städten bilden sich Selbsthilfegruppen. Stolz bezeichnet man sich nun mit dem einstigen Schimpfwort "schwul". Schon bald aber geht es um mehr. Die Gruppen suchen die Öffentlichkeit. Elmar Kraushaar, damals aktiv bei der "Homosexuellen Aktion Westberlin":

Elmar Kraushaar II:
[049] "Wichtig für den einzelnen, glaube ich, war, ähm, wie kommt man mit der Situation zurecht, weil das war 'ne angstbesetzte Situation, plötzlich äh, auf der Straße, in der U-Bahn, auf dem Kudamm als Schwuler erkennbar zu sein, sich erkennbar zu machen, ich glaube, das war 'ne Situation, die meisten von uns hatten wenige Erfahrung damit, und sich dem auszusetzen war einfach 'ne - in der Pubertät würde man sagen 'ne Art Mutprobe."

Tom Robinson, Glad to be gay (Archiv: 8-13490):
Sing, if you're glad to be gay, sing if you're happy this way, hey . . .

Zinn (Hintergrund weiterhin Tom Robinson):
Immer mehr Schwule und Lesben zeigen ihr Gesicht. In neuen Kneipen und Cafes, die sich mit großen Fenstern zur Straße öffnen. Auf Straßenfesten und natürlich auf den alljährlichen Demonstrationen zum Christopher Street Day.

Tom Robinson:
Sing, if you're glad to be gay, sing if you're happy this way, hey . . .

Zinn:
Bald allerdings droht ein Rückschlag. Als der Spiegel im Juni 1983 die "Schwulenseuche" Aids entdeckt, ist die Stunde der Scharfmacher gekommen. Hans Peter Hauschildt, Mitbegründer der Deutschen Aidshilfe:

Hans-Peter Hauschildt:
[16] "Es war ja von Verhaftungen Uneinsichtiger ganz früh schon die Rede, [gerade in Hessen damals auch,] und entsprechend haben wir uns organisiert. Es war wenn man so will also für die Schwulenbewegung, von dem was ich davon erlebt habe, ein Wiederaufflammen."

Zinn:
So absurd es klingt: erst Aids brach die gesellschaftliche Isolation der Schwulen. Hinz und Kunz waren plötzlich gezwungen, sich mit schwulem Sex, schwuler Liebe, kurz mit dem Alltag einer Minderheit auseinanderzusetzen:

Raver:
[185] "Schwul? Schön, soll'n se machen."

Frau:
[181] "Nett, ich hab lauter nette schwule Freunde"

Lesbe:
[188] "Angenehm, gut, bin dafür, ich bin selber lesbisch."

DeutschlandRadio