Berliner Zeitung, 29.4.2000:

Das weiße Haus läuft rosa an

Lesben und Schwule demonstrieren an diesem Wochenende in Washington für Gleichberechtigung

Von Alexander Zinn

BERLIN/WASHINGTON, 28. April. Amerika wird in diesen Tagen vom Reisefieber geschüttelt. Im ganzen Land packen Schwule und Lesben, Trans- und Bisexuelle ihre sieben Sachen. Tunten stöckeln auf die Flughäfen von New York und San Francisco, die lesbischen "Dykes on Bikes" satteln ihre Motorräder, ganze Schwulengruppen besteigen Überlandbusse. Ziel der Reisegesellschaft ist jedoch kein neues, gelobtes Regenbogen-Land. Im Gegenteil: Es geht in die Hauptstadt Washington, die in den Augen der Homo-Gemeinde für eine wenig lobenswerte Politik steht.

Wichtige Wählergruppe

Mehrere hunderttausend "Queers", wie sich Schwule, Lesben und Transen hier seit einigen Jahren nennen, werden am Sonntag zum "Millennium-Marsch auf Washington" erwartet. Auf der Mall vor dem Weißen Haus wollen sie der politischen Klasse Amerikas einheizen und sich gleichzeitig als wichtige Wählergruppe ins Spiel bringen. Denn in den USA wird im November ein neuer Präsident gewählt. Wer das Rennen macht, hängt auch ab vom auf fünf Prozent geschätzten Stimmanteil der Schwulen und Lesben. Eine Tatsache, die inzwischen sogar der republikanische Bewerber George W. Bush junior erkannt hat. Ganz zu schweigen von den Demokraten Al Gore und Bill Bradley, die die Homo-Gemeinde schon seit längerem umgarnen.

Im Detail sind die Versprechungen der Kandidaten allerdings sehr dürftig. Die demokratischen Bewerber setzen sich zwar für eine bessere rechtliche Absicherung homosexueller Paare ein. Forderungen nach einer Homo-Ehe erteilen sie aber eine klare Absage. George W. Bush lässt sich erst gar nicht auf inhaltliche Zugeständnisse ein. Sein Tribut an die homosexuelle Wählerschaft erschöpft sich in Auftritten vor republikanischen Schwulengruppen.

Schwule und Lesben in den USA haben ohnehin keine besonders guten Erfahrungen mit ihren Präsidentschaftskandidaten. Mit einem gewissen Grausen erinnern sie sich an den Wahlbetrug von Bill Clinton im Jahre 1992. Mit dem Versprechen, das Berufsverbot für schwule und lesbische Soldaten abzuschaffen, hatte Clinton damals viele Stimmen gewonnen. Doch nach der Wahl änderte sich fast nichts: Weiterhin müssen Soldaten ihre Homosexualität verheimlichen, wenn sie nicht gefeuert werden wollen. Die Folge: Bis heute ist das Klima in den US-Streitkräften zutiefst homosexuellenfeindlich. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Übergriffen. Im Sommer 1999 wurde der 21-jährige Soldat Barry Winchell von einem Kameraden mit einem Baseballschläger zu Tode geprügelt, als dieser erfuhr, dass Barry schwul ist. Trotz aller negativen Erfahrungen: Mit dem Millennium-Marsch soll die Lesben- und Schwulenpolitik erneut zum Wahlkampfthema gemacht werden. "Die Wahl ist der eigentliche Grund, den Marsch dieses Jahr zu veranstalten", so Dianne Hardy-Garcia, eine der Organisatorinnen der Demonstration. Ein wichtiger Faktor sind Wählerlisten, in die sich die Teilnehmer in Washington eintragen sollen. "Wir sind nahe dran, uns als ein Wählerblock zu präsentieren. Und das ist wesentlich für Politiker", so Hardy Garcia.

Neben all der Politik ist der Marsch aber auch soziales und kulturelles Ereignis: Am Vorabend der Demo gibt es ein großes "Equality-Rock-Konzert", mit dem "neue Standards von Toleranz und Verständnis" gesetzt werden sollen. Stars wie George Michael, Chaka Khan und die Pet Shop Boys treten auf, um ein Zeichen für gleiche Rechte und gegen Homosexuellenhass zu setzen.

Vor allem aber bietet das Ereignis Gelegenheiten, neue Kontakte zu finden, sich über gemeinsame Ziele zu verständigen und neue Gruppen zu gründen. So war es zumindest bei den drei vergangenen Märschen nach Washington: 1979 gründete sich eine Gruppe von Eltern Homosexueller, 1987 organisierten sich die schwulen und lesbischen Latinos, 1993 die Soldaten. Mit den Gruppen wuchs die Zahl der politischen Schwerpunkte - und damit auch die der Konflikte. Und so wurde es auch immer schwerer, alle Interessengruppen unter einen Hut zu bringen.

Warnung vor Biestern

Mit der Differenzierung ging zudem die Professionalisierung und Kommerzialisierung der Szene einher. Eine Entwicklung, die vor allem altlinke "Graswurzelgruppen" beklagen. Ein "Komitee für einen demokratischen Entscheidungsprozess" ruft sogar zum Boykott des Millennium-Marsches auf. Das ganze Ereignis sei von oben herab organisiert und mit Sponsorengeldern zweifelhafter Firmen finanziert, so die Argumente. Andere halten dagegen, die eigentlichen Gegner seien nicht die Sponsoren, sondern die christlichen Fundamentalisten. So etwa die Westboro Baptist Church, die im Internet gegen den Marsch hetzt. Da wird vor "einer Million sodomitischer Biester" gewarnt, der "größten Versammlung Perverser in der Geschichte". Und um keinen Zweifel daran zu lassen, welches Schicksal man den Teilnehmern wünscht, ist ein Foto des 1998 ermordeten schwulen Studenten Matthew Shepard zu sehen: brennend in der Hölle.

All das freilich wird die "gewöhnlichen Homosexuellen" nicht davon abhalten, nach Washington zu fahren. Ihre Tickets sind schon gekauft, die Koffer gepackt. Für die meisten ist der Marsch nicht nur eine politische Demo, sondern eben auch eine große Party.