Berliner Zeitung, 24.6.2000:

Kaffeetanten und Knastschwestern

Wo bleibt die Verruchtheit? Homosexualität liegt voll im Trend

Von Alexander Zinn

"Da ist man nun schwul geworden, um was Besonderes zu sein, und dann das!" Empört streckt mir mein Freund Torsten die neue Ausgabe der "Siegessäule" entgegen: Ein junger, offensichtlich homosexueller Mann mit "Goatie"-Ziegenbärtchen lächelt dort verklemmt in die Kamera. "Kaffeetanten mögen's light" steht unter der "Jacobs"-Werbeanzeige. Wir sitzen in der schwulen Trend-Bar "Hafen", trinken markenbewusst "Beck's" und quatschen mal wieder über das Wichtigste im Leben: unsere sexuelle Veranlagung. "Schwulsein ist totaler Mainstream geworden", faucht Torsten. "Vielleicht sollte ich mich auf Tiere verlegen."

Keine Frage: Schwulsein liegt voll im Trend, ist "in" und "hip". Auch der neueste Werbespot für Wap-Handys kommt nicht mehr ohne gleichgeschlechtliche Zeitgenossen aus. Ganz zu schweigen von der Tabakwerbung. Immerhin scheint man begehrt zu sein - ein bisschen Balsam für Torstens Seele. Doch kaum etwas Verruchtes hängt dem "Homosexuellen" mehr an. Wunderbare Begriffe wie der vom "Milieu" wurden aus dem heterosexuellen Wortschatz eliminiert. Vorbei auch die seligen Zeiten, als man noch verstörte Blicke ernten konnte, wenn man seinen Freund auf dem Kudamm abknutschte.

Schwule sind zur Inkarnation des Internetzeitalters geworden. Sie gelten als jung, schön und reich. Die Werbebranche betrachtet sie als Trendsetter. Ja, und sind sie das etwa nicht? War es nicht Torsten selbst, der auf den ersten Techno-Partys Anfang der Neunziger mit einer BSR-Jacke auftauchte? Nur wenig später stattete C&A jeden zweiten Love-Parade-Touristen mit Neon-Plastikwesten aus! Und waren es nicht die schwulen Lederkerle, die damit begannen, sich den Schädel zu rasieren, Ringe durch die Nase zu ziehen und die Waden mit "Tribal"-Tätowierungen zu verzieren? Lange, bevor es die auch als abwaschbare Rubbel-Tattoos gab!

"Klar, das waren Schwule, die solche Trends setzten", gesteht auch Torsten zu. "Aber deshalb sind wir doch noch lange keine Trendsetter. Denk mal an die ganzen schwulen Sozi-Empfänger!" Und wie "trendy" ist der schwule Taxifahrer aus dem Seitenflügel? Oder die Lesbe, die zwei Jungs großzieht?

"Die Lesben haben es ohnehin schwer", meint Torsten. Was den Schwulen neuerdings angedichtet wird, geht ihnen in der öffentlichen Meinung vollkommen ab: Lesben gelten als kurzhaarig, freudlos, langweilig und arm. Als Trendsetter sind sie deswegen vollkommen ungeeignet. Lange vorbei die Zeiten, als sich Marlene Dietrich und Claire Waldoff in Herrenanzüge schmissen und damit eine Revolution der Damenoberbekleidung auslösten. Heute dagegen wabert das lesbische Image irgendwo im semi-kriminellen Sumpf: "Zwischen Tatort-Kommissarin und Knastschwester hinter Gittern", freut sich Torsten. Einzig die Ulknudel Hella von Sinnen hält tapfer dagegen.

Torsten gerät da fast ins Schwärmen: "Wenigstens sind Lesben noch was Besonderes." In den Topten der aktuellen Witze rangiert "Lesbenfreund" gleich hinter "Frauenversteher" und "Mittelspurfahrer". Kurzum: Auf der Insel Lesbos herrschen noch paradiesische Zustände, meint Torsten. "Auf die heterosexuellen Ausbeuter", proste ich Torsten zu. "Auf die Unterdrücker", ruft er und kippt sein Markenbier runter. Anschließend ziehen wir weiter in die Nachbarkneipe "Tom's". Da muss man wenigstens noch klingeln, wenn man rein will. Wie damals, in der guten alten Zeit als es den Paragrafen 175 noch gab.